Natürlich handelt es sich nur im übertragenen Sinne um einen Abgrund. Der kann jedoch sehr tief erscheinen.
Ich spreche von Entscheidungen an den großen Wegscheiden des Lebens. Wenn es etwas Großes im Leben zu entscheiden gibt, dann ja häufig nicht eine einzelne Entscheidung, sondern einige weitere, die in Bezug aufeinander gefällt werden wollen.
Wegscheiden
Geht es um berufliche Veränderung, stehen oftmals auch Fragen der Beziehung mit im Raum, oder umgekehrt. Es fühlt sich dann so an, als würden wir an einem Abgrund stehen und den Absprung in das tiefer sichtbare Wasser nicht wagen.
Es ist ein Sprung ins Unbekannte. Es verursacht Unbehagen in uns, da wir nicht wissen, was auf uns zukommt, wenn wir den Absprung wagen. Gleichzeitig verspüren wir aber auch ein großes Verlangen, den Sprung zu wagen und die neuen Möglichkeiten zu erkunden.
Es ist ein Balanceakt: immer schön am Rande der Klippe entlang.
Dieser Balanceakt kostet uns viel Energie und Zeit. Je länger er anhält, umso schwieriger wird es.
Es ist ein Raum zwischen den Welten. Der Raum zwischen unserem bisherigen Leben und einem möglichen neuen.
Zurück geht es nicht mehr. Sobald wir uns erst einmal an den Rand begeben haben, ist eine Rückkehr zum alten Leben kaum noch vorstellbar.
Die Angst vor dem Neuen, dem Ungewissen, ist aber noch zu groß.
Der Absprung ist im Prinzip unvermeidlich. Es prickelt an manchen Tagen am ganzen Körper.
Das Fatale an der Geschichte ist, dass ein Absprung anscheinend nur ganz oder gar nicht stattfinden kann. Es ist mir zumindest schon oft so ergangen. Wenn ich eine Entscheidung treffe, um eine Baustelle zu schließen, die mich am Voranschreiten hindert, tut sich im selben Augenblick eine neue Baustelle an einer ganz anderen Stelle auf, die die erste Entscheidung wieder in Frage stellt.
Das Ganze ist dann noch begleitet von wirtschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen.
Manchmal denke ich, der Abgrund ist gar nicht so tief. Nach jedem Sprung landet man nur einige Meter weiter unten – wie auf einer großen Treppe. Du nimmst Anlauf, springst, machst die Augen zu. Du machst dich auf einen langen Fall mit anschließendem Eintauchen ins kalte Wasser gefasst. Du landest nur einen Bruchteil einer Sekunde später doch wieder auf festem Grund.
Mut zur Lücke
Ich denke, es fehlt der Mut. Der Mut, alle Brücken hinter sich einzureißen, oder das Niederbrennen der Schiffe nach der Landung auf einem neuen Kontinent.
So verweilt der Mensch über Jahre hinweg am Abgrund, zerrissen zwischen Bleiben und Springen.
Also ein Leben am Abgrund. Der Absprung gelingt nur im Tagtraum, in den es sich flüchten lässt.
Ich vermute in meinem nicht mehr ganz so jugendlichen Leichtsinn mal, dass es auch einigen anderen Menschen hier so geht.
Ich habe mit einem guten Freund zusammen einen Weg gefunden, dem Abgrund seinen Schrecken zu nehmen. Ich habe angefangen ein neues Bild zu manifestieren, welches den Abgrund als Tal zwischen zwei Gipfeln erscheinen lässt.
Also kein Abgrund, in den es unendlich tief zu fallen droht, sondern ein Tal, welches durchschritten werden oder mit einem Hilfsmittel wie z.B. einer Seilbahn oder Brücke überwunden werden kann, um den nächsthöheren Gipfel zu erreichen.
Die etwas andere geologische Untersuchung
Um den Weg zum nächsten Gipfel zu wählen, ist es sinnvoll zu wissen, wie tief das Tal ist.
Wie aufwendig ist es, das Tal zu Fuß zu durchschreiten. Wenn das Tal zu tief erscheint, kann es sinnvoll sein, sich Hilfsmitteln zu bedienen. Investieren muss ich aber in jedem Fall.
Den langen Fußmarsch werde ich aus eigener Kraft meistern müssen, und Hilfsmittel muss ich mir auch erarbeiten.
Ein Hilfsmittel kann sein, sich hilfesuchend an einen guten Freund zu wenden. Wenn das Hilfsmittel etwas stabiler sein soll, um mehr Sicherheit zu geben, kann es auch ein Coach sein, der mit mir einen Weg über das Tal erarbeitet.
Oder ich finde Wege, indem ich mir Bücher zum Thema besorge.
Das neue Bild des Tals, auf dem Weg weiter nach oben, nimmt dem Abgrund den Schrecken.
Es verschafft mir auch die Möglichkeit einen Weg zu finden, weil es auf der anderen Seite weiter geht. Im allerschlimmsten Fall muss ich die Talsohle eben mühsam durchschreiten. Es ist aber nicht das Ende der Welt.